von Klaus Bunte, Soester Anzeiger, 25. Mai 2018
Die Frau startet gerade ihren wöchentlichen Großeinkauf in der Werler Tafel. Einmal pro Woche dürfen die Kunden sich hier versorgen, der jeweilige Wochentag ist fest zugeteilt, damit es weder zu Anstürmen noch zu Leerzeiten kommt. Und die Flüchtlingsfrau hat eine sechsköpfige Familie zu versorgen. Dank des Fastenmonats Ramadan und einer guten Spendenlage sind dennoch genug Lebensmittel für alle da.
"Avocados", bittet sie auf Deutsch. Der Ehrenamtliche hinter der Theke fragt nach: "Wie viele?" Die Frau ist in diesem Moment leicht überfordert. Der junge Mann neben ihr übersetzt ihr die Frage in ihre Muttersprache und ihre eigene Antwort wiederum ins Deutsche - die muss sie jedoch erst nachsprechen, bevor sie die grünen Früchte in gewünschter Anzahl erhält: "Fünf Avocados", spricht sie nach. Begriffe wie "helle Weintrauben", von denen sie gerne eine Schale mitnehmen möchte, "Himbeeren" und "Heidelbeeren" beherrscht sie schon.
Lehrer hat sich Deutsch selbst beigebracht
Der 26-Jährige, der ihr und den anderen Flüchtlingen in der Werler Tafel beim Einkauf sprachlich zur Seite steht, ist selber Flüchtling. Einer, der den Rechten ein Dorn im Auge sein dürfte, weil er nicht ins kolportiere Klischee passt: zwar jung und unbegleitet, aber alles andere als unqualifiziert. Mit Mitte 20 hat Ali Yar Ahmad schon längst seinen Bachelor in englischer Sprache und Literatur in der Tasche. Normalerweise würde so jemand nun an einer Uni arbeiten und seinen Master machen oder einer Tätigkeit als Lehrer nachgehen. Letzteres tat er früher auch. Dann stand jedoch die Isis vor den Toren Mossuls, seiner Heimatstadt im Norden des Irak. Die Schlacht ist seit Juli vergangenen Jahres beendet, doch die Stadt liegt in Trümmern: "Alles, was man sich ein Leben lang aufgebaut hat, ist in kürzester Zeit dahin", berichtet Ahmad in flüssigem Deutsch.
Seit Dezember 2015 ist Ahmad in Deutschland. Zu Fuß war er von der Türkei nach Griechenland gelaufen und von dort mit dem Zug über Mazedonien, Serbien und Slowenien nach Deutschland gereist, wo seine Geschwister schon seit vielen Jahren leben. Die Sprache lernte er erst hier - ohne einen Kurs besuchen zu müssen, er brachte sie sich selber bei und schaffte auf diesem Weg die Zertifizierungen B1, B2 und C1, die zweithöchste Niveaustufe (offizieller Jargon: "fortgeschrittenes Kompetenzniveau", danach kommt nur noch C2, sprich, die "nahezu muttersprachliche Sprachbeherrschung"). Seine Aufenthaltserlaubnis gilt für drei Jahre, ein Jahr ist bereits rum, danach entscheiden die Behörden neu über seine Zukunft in Deutschland. Eine Arbeitserlaubnis hat er, für seine Tätigkeit bei der Tafel darf die Caritas ihn also immerhin auch bezahlen.
"So etwas wie in Essen wollten wir verhindern"
"German to go" begann zunächst als reine Einkaufsbegleitung, "und wir riefen es ins Leben, als die Diskussion um die Essener Tafel aufkam", blickt Michael Geitmann zurück, der Koordinator der Werler Tafel. Seine Kollegen in der Ruhrgebiets-Großstadt hatten zu Jahresbeginn für Negativschlagzeilen gesorgt, als sie keine neuen Ausländer mehr in ihre Kartei aufnehmen wollten, da sich angeblich ältere Tafel-Nutzerinnen sowie alleinerziehende Mütter von fremdsprachigen schubsenden und drängelnden jungen Männern in der Warteschlange abgeschreckt gefühlt hätten. Geitmann: "Das wollten wir vermeiden - dafür brauchten wir aber zusätzliches Personal."
Dazu stellte der Diözesancaritasverband zunächst für ein Jahr befristet zwei Personen ein, die selber geflüchtet waren. Neben Ahmad ist dies Fazel Sawsan, die im Vorraum der Tafel den Kontakt zu den Kunden sucht. Die beiden irakischen Sprachtalente decken Arabisch, Kurdisch, Türkisch, Englisch und eben auch Deutsch ab, "die Afrikaner sind bei uns in der Minderheit und sprechen meist auch Englisch", so Geitmann.
Zunächst wurden die beiden an Bord geholt, um etwas Ruhe in die Tafel zu bringen, "denn Unruhe kommt meist erst aufgrund sprachlicher Barrieren und entsprechender Missverständnisse auf, bei denen es sich wiederum meist nur um Kleinigkeiten dreht", weiß Geitmann. "Und je eher man Ruhe und eine gerade Linie hineinbringt, desto besser läuft es. Ich schätze, dass es genau daran in Essen eskalierte. Und es ist eine harte Nummer, dies an Nationalitäten festzumachen: Wer Stress macht, muss gehen, ganz gleich, ob es ein Deutscher ist oder ein Araber. Ich finde, unser Modell sollte Schule machen."
"Unser Modell sollte Schule machen"
Ursprünglich sollten die beiden nur die Einkaufssituation begleiten, damit die Leute nicht nur "drei davon" bestellen, sondern gezielt "drei Gurken, vier Äpfel" und so weiter: "Sie sollten sich in niederschwelligem Deutsch mitteilen können, denn 70 Prozent unserer 350 Kunden haben einen Migrationshintergrund. Ein großer Teil wiederum davon besteht aus Flüchtlingen, die übrigen sind lange genug in Deutschland beheimatet, um hinreichend deutsch zu sprechen."
Schnell wurde jedoch mehr daraus. Der Impuls dazu ging von der Kundschaft aus: Einige fragten, ob man sich nicht in Ruhe, abseits des Trubels der Tafel, zusammensetzen könne. So beschloss die Caritas, bereits eine halbe Stunde vor der Öffnung der Tafel ein offenes Angebot zu installieren. Es ist kein Kurs im direkten Sinn, der einem vorgeschriebenen Curriculum folgt und schon gar nicht am Ende ein Zertifikat ausstellt. Die Migranten kommen mit ihren Fragen, wie sie etwas formulieren können. Geitmann: "Das ist eine Kleingruppe, und niemand muss sich schämen, weil er kein deutsch spricht. Unser ganzer Anspruch besteht lediglich darin, dass der Flüchtling irgendwann eigenständig auf deutsch bestellen kann. Am schnellsten lernen die Syrer - ihr Akzent erinnert dann sehr an den der Franzosen, wenn sie deutsch sprechen."
Und so stehen Ahmad und Sawsan an diesem Morgen vor einem Flipchart und gehen sowohl die Unterschiede als auch die komplizierte Konjugation deutscher Hilfsverben durch, denn dass "ich möchte Gemüse kaufen" etwas anders bedeutet als "ich wollte Gemüse kaufen", muss man erst einmal wissen. "Ich will Auberginen kaufen, weil ich gefülltes Gemüse kochen möchte", bringen sie den Frauen bei, oder auch "ich kann nicht zu Dir kommen, weil ich keine Zeit habe." Oder sie kommen mit Behördenschreiben, die sie nicht verstehen, "und wenn es ans Eingemachte geht, rufen wir unsere Integrationsberatung hinzu."
Die Mutter der Großfamilie hat ihren Einkauf beendet. "Tagesrekord", lacht der Verkäufer angesichts der Unmengen, die sie und ihr Mann in großen Einkaufstaschen davon tragen, und er packt noch eine Packung Kirchen oben drauf, als Belohnung, "weil Sie sich so viel Mühe geben". Der Gang zur Tafel hat sich also gelohnt, sie hat Nährstoffe bekommen im buchstäblichen und im übertragenen Sinne: für den Bauch und für den Kopf.